Ist der Männerchor gesang noch zu retten?
Männerchorgesang sei "out", lautet die landläufige Meinung am Ende des 20. Jahrhunderts. Statistiken geben Anlaß zu schockierenden Prognosen. Proben- und Auftrittseindrücke drängen den Verdacht auf, daß das Überlebenstraining vieler einst stimmgewaltiger Gemeinschaften einem aussichtslosen Wettlauf mit der Zeit ähnelt. Verantwortlich dafür sind wohl weniger die vielgerügten Medien als die Inhalte, die mit den Gesängen häufig vermittelt wurden und werden. Zu wenige haben erkannt, daß die einst begehrten tränenrührigen Sentimentalitäten, aus der Heimlichkeit der privaten Vier-Wände auf das öffentliche Podium geführt, an dem unerbittlichen Takt der modernen Zivilisation zerbrechen und den musizierwilligen Nachwuchs eher abschrecken. Ebensowenig wegwischen läßt sich die Erinnerung an dunkle Zeiten des Männerchorgesangs, als sich nationale Bekenntnisse in chauvinistische Überheblichkeit wandelten und nationalsozialistische Propaganda singend unterstützt wurde.
Der 1953 gegründete und damit noch vergleichsweise junge Männerchor Leipzig-Nord sieht seine Chance gerade darin, den traditionsbelasteten Klischees durch ein alternatives Repertoire zu begegnen. Werke, die dem konventionellen Männerchorgesang allzu sehr frönen, werden in den Konzertprogrammen weitgehend ausgespart. Sie räumen Platz für anderes, so für die zeitlos wirkende Poesie der Renaissance, für internationale Volkslieder in anspruchsvollen Bearbeitungen und für Handschriften des 20. Jahrhunderts. Wiederholt wurden Kompositionsaufträge vergeben, darunter an Willy Kehrer (1902–1976), der für den Chor nach Texten von Georg Maurer das Werk Licht auf allen Wegen schrieb.
Mit diesen Schwerpunkten erarbeitet sich der Chor seit vielen Jahren ein Klangideal, das sich von dem althergebrachten Pathos zahlloser Vereine abgrenzt und zugegebenermaßen für viele ungewohnt ist. Denn einen "typischen" Männerchor verkörpern die rund 40 aktiven Mitglieder nicht. Kritiker haben immer wieder die Fähigkeit der Sänger zu spannungsvollem Piano hervorgehoben und damit signalisiert, daß sich Stimmkraft nicht allein in machtvoller Lautstärke äußert. Gerade im Umgang mit den vielschichtigen musikalischen Abläufen in Madrigalen, Motetten und Liedbearbeitungen des 15. und 16. Jahrhunderts erfahren die Choristen, daß Musik nicht mit dem Singen, sondern mit dem Hören beginnt. Diese Erkenntnis hilft, auch Kompositionen des 19. Jahrhunderts in neuer Weise zu erleben und dem Publikum zu vermitteln.
Seit 1975 wird der Chor, dem bis dato Gründungsdirigent Walter Stumpf vorstand, von Detlef Schneider geleitet. Der ehemalige Kruzianer und studierte Physiker ist gewiß kein bequemer Chorleiter. Vermeintliche "Demokratie" in Repertoirefragen lehnt er beharrlich ab, sie kann für die Entwicklung eines Chores tödlich sein. Vor Literatur, die die Leistungsgrenzen der Sänger berührt, schreckt er ebenso wenig zurück wie vor temperamentvoller Kritik, die die Übungsabende – neben deftigen Kalauern – beständig begleitet und ebenfalls nach Konzerten nicht fehlt. Denn er weiß, daß künstlerische Erfolge anspruchsvolle Ziele voraussetzen und rasch verspielt sind, auch bei musikalischen Amateuren. Damit sei angesprochen, daß die Mitglieder aus unterschiedlichen Berufen stammen und in der Regel keine ausgebildeten Musiker sind. Dieses große Spektrum an Lebenswegen prägt das Klima des Chores ebenso wie das selbstverständliche Miteinander mehrerer Generationen. Jeder verfügt über spezifische Erfahrungen, die er in die Gemeinschaft einbringen kann. Und daß in den letzten Jahren neue, vor allem junge Mitglieder zu den Sängern gefunden haben, während viele andere Vokalvereinigungen meist das Fehlen von Männerstimmen beklagen, dürfte wohl als gutes Omen für den Chor gelten.
Die Proben werden nicht an Orten abgehalten, wo die Gesangbücher Henkel haben. Mit dem Bier- oder Schnapsglas in der Hand läßt sich zwar angeregt plaudern und manches Trinklied anstimmen, was zu Feiern und Chorausflügen auch geschieht, doch bei den allwöchentlichen Übungsabenden rückt das konzentrierte Feilen am Repertoire ohne Stammtisch-Atmosphäre in den Vordergrund.
Über einen Mangel an Auftrittsmöglichkeiten braucht der Chor nicht zu klagen. Jährlich finden Konzerte im Gewandhaus und im Völkerschlachtdenkmal statt. Seit einiger Zeit haben die Sänger eine musikalische Heimat in der Leipziger Versöhnungskirche gefunden und 1999 den Park des Gohliser Schlößchens für sich als Konzertstätte entdeckt. Darüber hinaus ist es den Choristen ein Bedürfnis, in Begegnungsstätten von Veteranen sowie in Alten- und Pflegeheimen zu musizieren. Nicht zu vergessen sind Reisen, die den Chor bislang nach Ungarn, in die Slowakei und in die Ukraine, nach den Herbstereignissen von 1989 auch in viele Städte der alten Bundesländer, nach Frankreich und – als unbestrittener Höhepunkt – nach Japan führten.
Wörter genügen nicht, um die menschlichen und kulturellen Begegnungen nachvollziehen zu können, als die Sänger im Herbst 1994 zu den befreundeten Mitgliedern der Tokyo Liedertafel 1925 und des Yokodai Männerchores fliegen durften. Welches Ereignis bedeutete es für die Leipziger, auf den Konzertpodien von Tokyo und Yokohama Facetten europäischer Musik und japanische Gesänge in der Originalsprache vorführen zu können. Und welche Eindrücke waren damit verbunden, für eine Woche einzutauchen in die pulsierende Großstadt-Atmosphäre der Zwölf-Millionen-Metropole Tokyo oder einen Sonnenaufgang in Yokohama zu erleben. Chormusik aus Japan wie das poesievolle Lied vom Mond über der alten Ruine erklingt seitdem in den meisten Konzerten des Männerchores Leipzig-Nord.
Gerade die Reise nach Fernost offenbarte den Sängern, daß das Ringen um richtige Töne im Probenalltag und in Konzerten nur eine Seite des Chorsingens erfaßt. Die andere Seite läßt sich vielleicht mit der folgenden Äußerung des Jazz-Experten, Musikethnologen und Hörpsychologen Joachim-Ernst Berendt umschreiben: "Chöre sind ein Gesellschaftsentwurf. Deshalb faszinieren sie. Sie realisieren, wonach Menschen seit Jahrtausenden suchen: die ideale menschliche Gemeinschaft – eine 'Mini-Gesellschaft' im Dienste der Harmonie – jedes Mitglied hörbar mit eigener Stimme, durchaus auch der Disharmonie begegnend, nicht vor ihr zurückschreckend, sie artikulierend und in Harmonie verwandelnd, auf ihr bestehend – eine Gesellschaft, die vielfältig in Gruppen und Untergruppen gegliedert ist […], jede mit eigenem Recht, gleichwohl dem Ganzen dienend […]. Wenn das Wort 'Politik' Sinn macht, dann ist dies auch ein politischer Entwurf. Daran zu erinnern in einer Zeit, in der die Mächtigen und Reichen der Welt die Solidarität der Menschen unserer Länder aufgekündigt haben, ist wichtig."
Thomas Schinköth (Chormitglied)
1995 produzierte der Männerchor Leipzig-Nord die erste eigene CD mit internationalen Volksliedern, Werken der Renaissance und des 20. Jahrhunderts. Die Aufnahmen sind unter dem Titel Audite nova im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad in Altenburg erschienen. Außerdem ist der Chor beteiligt an einer 1993 erschienenen CD sächsischer Chöre (… aber die Musica bleibet bestehen) sowie an einer 1999 produzierten Weihnachts-CD mit Chören des Leipziger Chorverbandes, welche wiederum im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad in Altenburg erschienen ist (Vom Himmel hoch … Chöre des Leipziger Chorverbandes singen Weihnachtslieder).